Es gibt ja lieb gewordene Gewohnheiten und es gibt Gewohnheiten. Ob auf die alljährliche Aussendung von gut gemeinten Weihnachtswünschen Ersteres oder Letzteres zutrifft, ist nicht ganz klar. Auf alle Fälle soll es Unternehmen geben, bei denen die Entwicklung der Weihnachtsaussendung einen ähnlichen Stellenwert einnimmt wie die Vorbereitung und Durchführung mindestens einer Konzernfusion. Lustigerweise.

„Und noch was – die nächste Weihnachtskarte steht an.
Geht das dieses Mal vielleicht etwas … pfiffiger?“


Dr. Wolff, Gründer und Hauptgesellschafter des internationalen Speditionsunternehmens Columbus AG, schnippt mit einer verächtlichen Geste aus dem Handgelenk die Weihnachtskarte vom letzten Jahr über den Sitzungstisch.

Sie beschreibt einen fast eleganten Bogen und bleibt vor Nimmerstett liegen. Dr. Wolff nimmt ihn in den Blick. „Wann sehen wir erste Entwürfe, Nimmerstett?“ Nimmerstett schluckt. Es ist gerade mal Februar. Die Entwicklung der letzten Weihnachtsaussendung steckt ihm noch in den Knochen. Der Verschleiß eines Marketing-Managers und dreier Trainees aus der Kommunikationsabteilung,
ein Burnout einer Assistentin, eine eingetretene
Bürotür, eine Sondersitzung des Betriebsrats und zweieinhalb eigene Nervenzusammenbrüche waren die Folge.

Das Ergebnis:
Büttenpapier in Samtrot (Pantone 18-1935), vorne drauf die Headline ‚Frohe Weihnachten‘ in güldener Schrift (Rabitta Calligraphy Font, 12 Punkt). Innendrin das Columbus-Logo mit dem Spruch: ‚Wenn wir kommen, ist immer Weihnachten‘ (was Nimmerstett für ein Transportunternehmen sehr pfiffig fand). Dazu viel Platz für eine persönliche Notiz. Der allerdings regelmäßig vor allem vom mittleren Management für eine ausufernd hingeworfene Unterschrift genutzt wurde, die deren Urheber als besonders führungsstark und dynamisch charakterisieren sollte.

Naja.

Nimmerstett ist sich bewusst, dass Dr. Wolff die Weihnachtsaussendung alljährlich zum Vorstandsthema macht. Schließlich sehen die auch seine Rotary-Freunde samt Gattinnen, inklusive seiner eigenen. Und die gilt gemeinhin als heimliche Kreativdirektorin der Columbus (wahlweise auch Chef-Inneneinrichterin oder Leitende Kunstkuratorin).

Großer Sitzungsraum ‚London‘. 24 Vertreterinnen und
Vertreter aus Marketing, Unternehmensstrategie, Öffentlichkeitsarbeit, Investor Relations, Marktforschung, Compliance und Kantine sind der Einladung Nimmerstetts mit dem Titel ‚Weihnachten droht‘ gefolgt. Sicherheitshalber ist Legal auch dabei.

Nimmerstett startet die Sitzung mit einem 45-minütigen
Recap der Entstehung der letztjährigen Weihnachtsaussendung. Er schließt mit den Worten: „Das diesjährige Motto lautet: „Pfiffig“!

Stille im Raum. Leises Seufzen. Betroffenes Räuspern.
Ein Kugelschreiber fällt zu Boden. Der sensible Hipster
aus dem Marketing rutscht still vom Stuhl, trotz seiner
martialischen Tattoos hat er es ein wenig mit den Nerven.
„Ich komme nun zu den Anforderungen!“ Nimmerstett
startet seine Powerpoint-Präsentation, die ihm die hauseigene Grafikabteilung in den letzten zwei Tagen (und Nächten) gestaltet hat. Titelchart: Frohe Weihnachten – Februar 2025. Dann geht er generalstabsmäßig durch die 31 Anforderungspunkte, die die Weihnachtsaussendung zu erfüllen hat. Sie wurden von einer eigens einberufenen Kommission aus Strategie und Marktforschung entwickelt

und mit einer Fokusgruppe auf Praktikabilität und Kausalität getestet. Von ‚A‘ wie Adressfeld bis ‚Z‘ wie Zeilendurchschuss. Darin enthalten auch Selbstverständlichkeiten wie Internationalität, Rücksichtnahme auf kulturelle Begebenheiten, Sichtbarmachung aller Holdinggesellschaften oder die Verwendung des Rabitta Calligraphy Fonts, der als Lieblingsschrift Frau Dr. Wolffs gilt. Zudem hat die Strategieabteilung als Impulsanstoß ein Papier aufgesetzt, das sich mit dem Begriff ‚Pfiffig‘ in kultureller, sozialer und psychologischer Sicht auseinandersetzt und seine Wirkung insbesondere auf Hauptaktionäre und Vorstandsgattinnen prüft. Auch da geht Nimmerstett flott durch und beschließt seinen Vortrag nach eineinhalb Stunden mit dem Hinweis auf das nächste Meeting in einer Woche, an dem erste Vorschläge ausgetauscht werden sollen.

Die Sitzung endet mit der Bemerkung des Hipsters aus
dem Marketing, dass er am nächsten Treffen nicht teilnehmen kann, weil er ausgerechnet da den Gutschein für das Achtsamkeitsseminar einlösen muss, den ihm seine Freundin geschenkt hat.

Großer Sitzungsraum ‚Tokio‘. 25 Vertreterinnen und Vertreter aus Marketing, Unternehmensstrategie, Öffentlichkeitsarbeit, Investor Relations, Marktforschung, Compliance und Kantine – Legal ist noch beim Rauchen – lauschen der Powerpoint-Präsentation von Nimmerstett, in der er die 114 Entwürfe der letzten Wochen Revue passieren lässt. Und erläutert, weshalb sie durchgefallen sind. Der Hipster aus dem Marketing hat sich entschuldigen lassen, seine Exfreundin braucht Hilfe bei ihrem Auszug.

Er wird von zwei Praktikanten (tätowiert) vertreten. „Was wir brauchen, ist mehr Out-of-the-box Thinking auf Basis unserer Markenwerte, meine Damen und Herren!“ versucht Nimmerstett die Runde zu neuen Höhenflügen zu motivieren. „Ein Twinkle in the eye, eine Big Idea, ein… ein Wumms der Pfiffigkeit!“ Auf die Frage, ob man dieses Jahr Weihnachten nicht einfach ausfallen lassen könne, geht er vorsichtshalber nicht ein.

Großer Sitzungsraum ‚New York‘. Vier Vertreterinnen und
Vertreter aus Unternehmensstrategie, Öffentlichkeitsarbeit und Kantine sind am Ende. Der Rest gilt als verschollen. Insbesondere die Tätowierten aus dem Marketing. Nach einigen Tobsuchtsanfällen und Abmahnungsandrohungen brachte die letzte Abstimmungsrunde mit Dr. Wolff endlich ein positives Ergebnis. Leider genau so lange, bis seine Gattin die Vorschläge begutachtete.

(„Sowas würd’ ich mir nicht auf den Kaminsims stellen“ / „was soll das denn sein“ / „wie sieht denn das aus“ / „gefällt mir nicht“ / „gefällt mir üüüberhaupt nicht“), was der weiteren Motivation nicht besonders dienlich war. Die Gewerkschaft verzeichnete daraufhin Rekord-Beitritte.

Viel zu kleiner Sitzungsraum ‚Ulm‘. 47 Vertreterinnen und Vertreter aus Marketing, Unternehmensstrategie, Öffentlichkeitsarbeit, Investor Relations, Marktforschung, Compliance, Kantine und das komplette Legal Department feiern die eben abgesegnete, neue Weihnachtsaussendung und stoßen gemeinsam mit Prosecco aus dem Kundenkühlschrank an (die Teilnahme der Kantine an den Entwicklungsarbeiten hat sich schlussendlich doch noch gelohnt). Der Hipster aus dem Marketing hat sich den Platz neben Nimmerstett gesichert und ist ganz aufgekratzt. Nach dem vierten Prosecco rutscht er still vom Stuhl, er hat’s ein wenig mit dem Kreislauf. Mit dabei neben zwei Volontären aus der Buchhaltung, die sich versehentlich ins falsche Meeting verlaufen haben, ist auch Frau Brand. Frau Brand ist die langjährige persönliche Assistentin von Dr. Wolff. Sie weiß genau, wie der Alte tickt und insbesondere seine Gattin. Beim letzten Abstimmungsmeeting ist sie dazugekommen, weil irgendjemand auf die Schnelle die zerbrochene Vase wegräumen musste, die einem neuerlichen Wolff’schen Wutanfall zum Opfer fiel.

Bei der Gelegenheit warf sie einen kurzen Blick auf die Vorschläge, die auf dem Tisch lagen. Mit der Nonchalance einer mit allen Wassern gewaschenen Grande Dame aller Teppichetagen warf sie ein:

„Wieso nehmen wir nicht Büttenpapier in Samtrot (Pantone 18-1935), vorne drauf steht ‚Frohe Weihnachten‘ in güldener Schrift (Rabitta Calligraphy Font, 12 Punkt)?Innendrin das Columbus-Logo und viel Platz für eine persönliche Notiz?“

Dr. Wolff horchte auf, lehnte sich zurück und nickte Frau Brand anerkennend zu: „Nimmerstett, hören Sie? Das ist doch mal was!“ Nimmerstett war elektrisiert. Endlich.
Hier war er, der Durchbruch. Unzählige Überstunden,
nervenzerfetzende Diskussionen, drei Kündigungen, eine
Schlägerei und die erhöhte Medikation zwecks Bekämpfung seines Bluthochdrucks machten sich bezahlt. Sofort nahm er den Faden auf und frohlockte: „Und unter das Logo schreiben wir: Wenn wir kommen, wird Weihnachten pfiffig!“

Bis zum nächsten Espresso!
Herzlich,